Derzeit künden Wahlplakate an jeder Ecke davon, dass die Wahlen zum europäischen Parlament mal wieder bevorstehen. In Zeiten von drohendem Brexit und erstarkendem Rechtspopulismus, erscheint die europäische Idee, die von altbekannten Politikergesichtern auf den Plakaten beschworen wird, nicht mehr besonders mitreißend.
Ich erinnere mich, dass von dem Moment an, wo ich als Kind von der Europäischen Gemeinschaft erfuhr, Europa stets als Verheißung für eine bessere Zukunft erschien. Die EU als notwendiger Entwicklungsprozess und unser Schicksal. Ich weiß noch, wie es war, bei Urlauben nach Dänemark und Österreich an der Grenze den Pass vorzeigen zu müssen. Dass in Europa Krieg tobte und Nachbarländer wie Frankreich und Polen als Feinde galten und brutal unterjocht wurden, wirkte hingegen schon damals fern und schwer vorstellbar. Der Fakt, dass seit 1945 in Europa eine einzigartige Periode des Friedens vorherrscht, habe ich in meiner Jugend stets als gegeben hingenommen. Es wirkte auf mich so, als wenn der Prozess der europäischen Integration für uns alle positive Veränderungen bereit hielt und automatisch, quasi ohne unser Zutun geschähe.
Irgendwann habe ich aufgehört so zu denken, ich weiß nicht mehr, wie es dazu gekommen ist, oder was der Auslöser war. Heute habe ich von der EU das Bild eines starren undemokratischen Bürokratiegebildes, bevölkert von uniformen Anzugträgern, deren Entscheidungen zumeist marktgetrieben sind (erinnert sich noch jemand an TTIP?). Die Frage über eine einheitliche Migrationspolitik spaltet die Union. Neben Großbritannien wird in vielen anderen Mitgliedstaaten über einen möglichen Austritt debattiert. Anstelle einer Entwicklung, die nur eine Richtung, und zwar die der vertieften europäischen Integration kennt, scheinen die Beteiligten und Bürger keine Lust mehr zu verspüren, die europäische Idee weiterzuentwickeln.
Ich glaube, dass ich keine radikale Position vertrete, wenn ich sage, dass aktuell einiges verkehrt läuft mit Europa. Jedoch scheint es keine Massenbewegung zu geben, daran etwas zu ändern. Vielmehr verharren wir in Passivität, schimpfen darüber, was uns nicht passt, aber versuchen unsere gewählten Lebensläufe ohne große Unterbrechungen weiterzuführen. Schließlich brauchen wir all unsere Kraft und Energie ja für Job und Familie, für Hobbies und Freunde.
Hoffnung
Dabei gibt es Beispiele, die Hoffnungen machen. Letztes Jahr fing es mit einem bürgerschaftlichen Bekenntnis für Europa im Rahmen der Pulse of Europe Demonstrationen an. Was ich aber besonders interessant finde, sind die aktuellen Entwicklungen, die sehr viel Jüngere auf die Straßen treiben. Da waren zum Einen die Proteste um die europäische Urheberrechtsreform (Artikel 13), die Tausende junge Leute mobilisiert haben. Zum anderen sind da die weltweiten Fridays for Future Demonstrationen, die weiterhin anhalten und an Intensität gewinnen. Beide Bewegungen eint ihre mobilisierende Kraft; Durch sie sind Menschen ins politische Handeln gekommen, die auf dieser Bühne zuvor wenig in Erscheinung getreten sind. Und ich gehe davon aus, dass diese Erfahrung zahlreiche Teilnehmer nachhaltig politisieren wird.
Meine Hoffnung ist, dass diejenigen, die sich gegen die Urheberrechtsreform politisch engagiert haben, sich in Zukunft auch für andere Themen einsetzen, die nicht nur ihr ureigenes Interesse berühren, sondern die des Gemeinwohls. Und bei Fridays for Future würde ich mir wünschen, dass von der Zuspitzung auf einen Generationenkonflikt „Wir gegen die“ etwas Abstand genommen und einem gemeinsamen Handeln mit Älteren nicht im Wege steht. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass hier eine transformative Kraft entsteht, die langfristig über den engen Begriff „Klimaschutz“ hinausweist. Schließlich betreffen die Forderungen, wenn man sie logisch zu Ende denkt, auch Fragen, wie wir wirtschaften, wie wir politische Entscheidungen treffen und wie wir eigentlich zusammenleben wollen – global, aber auch lokal.
Nach Jahren der proklamierten Alternativlosigkeit der verschiedenen Regierungen Angela Merkels, scheinen Visionen und Utopien aus der Mode gekommen zu sein. Es fehlt in der Gesellschaft die Vorstellung, dass radikale Veränderungen möglich sind. Genau aus diesem Grund ist es so wichtig, dass die Jugend sich verstärkt politisch engagiert. Denn gerade sie betrifft die Zukunft mehr als die Älteren. Sie gehen tendenziell mit Lust daran, Neues zu schaffen und nicht nur das Alte zu erhalten. Und trotz aller katastrophalen Zukunftsvisionen schauen sie eher mit Hoffnung auf die Zukunft. Die Kraft der Veränderung wird maßgeblich von der jungen Generation ausgehen, gemeinsam im Verbund mit Älteren. Denn nicht Angst vor Verlust treibt ihr Handeln, sondern die Aussicht darauf, etwas Neues zu gewinnen.
Weg nach Vorn
Ich bin der Überzeugung, dass dem Projekt Europa durch neue Perspektiven und Stimmen neues Leben eingehaucht werden kann. Bisher haben wir eine Union, in der insbesondere die Integration der Wirtschaft eine Erfolgsgeschichte darstellt und für viel Wohlstand gesorgt hat. Die EU ist der größte Binnenmarkt der Welt! Aber es gilt auch noch das, was Jaques Delores, ehemaliger Präsident der europäischen Kommission, gesagt hat: „Man verliebt sich nicht in einen großen Binnenmarkt“. Die emotionale Komponente wurde zu oft ignoriert. Genau hier sollte man meiner Meinung in Zukunft ansetzen, um die europäische Idee weiterzuspinnen. Die Fragen der Migration, der Partizipation und Demokratisierung sowie die der EU als gerechten Globalisierungsgestalter sollten in den Mittelpunkt gestellt werden, um wieder die Herzen der europäischen Bürgerinnen und Bürger zu gewinnen.
„Man verliebt sich nicht in einen großen Binnenmarkt“
Das größte Pfund, was die EU zu bieten hat, sind meiner Meinung nach die humanistischen Ideale, die sich im Rahmen der Aufklärung herauskristallisiert und insbesondere in der Neuordnung Europas nach dem zweiten Weltkrieg in Staat und Gesellschaft ihren Niederschlag gefunden haben. Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind Vorbilder für die ganze Welt geworden. Indem sich nun Europa aber wieder einmal zu einer Festung abschottet und Migranten vor der eigenen Haustür ertrinken lässt, gerät der Humanismus in Gefahr geopfert zu werden. Anstatt legale Einreisewege in die EU für Flüchtlinge zu schaffen, um den Geflüchteten die Inanspruchnahme ihres Rechts auf Asyl überhaupt zu ermöglichen, wird Seenotrettung kriminalisiert und die EU-Grenzschutzagentur aufgestockt. Hier sollte ein Umdenken dringend stattfinden, denn ansonsten wirkt jedes Beschwören der europäischen Ideale heuchlerisch. Dazu gehört auch, dass Staaten wie Italien und Griechenland, die aufgrund ihrer geografischen Lage eine Hauptlast der Migrationsbewegungen zu tragen haben, von den anderen Mitgliedsstaaten vermehrt entlastet werden, um nicht die Solidarität innerhalb der EU weiter zu gefährden.
Ein weiterer Punkt an dem zukünftig gearbeitet werden sollte, ist das Demokratiedefizit der europäischen Institutionen zu verringern. Noch liegen zu viele Kompetenzen beim Europäischen Rat und der Kommission, als dass sich die Macht des gewählten Parlaments entfalten könnte. Der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel hat in diesem Zusammenhang die treffende Frage gestellt, warum man der weiteren Übertragung von Kompetenzen der Nationalstaaten nach Brüssel zustimmen sollte, wenn die Nationalstaaten doch demokratischer organisiert sind. Dieses Unwohlsein teilen sicher viele EU-Bürger und sind auch Antrieb für antieuropäische Forderungen. Allerdings sollte die Antwort nicht lauten, dass sich die Nationalstaaten die Kompetenzen zurückholen, sondern die Demokratisierung in den europäischen Institutionen voranschreitet. Dabei sollte auch die Möglichkeit der dezentralen Partizipation vor Ort forciert werden, um Bürger*innen die Möglichkeit zu geben ihre Lebenswirklichkeit durch die EU vor Ort mitzugestalten.
Darüber hinaus böte eine stärkere Demokratisierung und Partizipation die Möglichkeit die Entwicklungen auf globaler Ebene gerechter mitzugestalten. Die EU als Staatenverbund ist eine der stärksten Volkswirtschaften der Welt. Das verleiht ihr Gewicht, internationale Vereinbarungen gerechter zu gestalten und Globalisierung werteorientiert zu steuern. Dazu gehört etwa darauf hinzuarbeiten globale Wertschöpfungsketten transparenter, ökologischer und sozialer auszugestalten. Die EU verfügt über die Macht, so Druck auf globale Unternehmen und ihre Zulieferer aufzubauen, um der Weltwirtschaft ein menschlicheres Antlitz zu geben. Auch die Fischereipolitik und Agrarexporte müssen dringend reformiert werden, damit nicht in Ländern des globalen Südens die Volkswirtschaften beschädigt und die Lebensgrundlagen vor Ort beeinträchtigt werden. Das würde außerdem den Migrationsdruck erheblich verringern. Mit einer demokratischeren EU hätten wir einen Hebel, die Welt positiv zu beeinflussen.
Ein Faktor, der den Rechtspopulisten europaweit einen erheblichen Aufschwung beschert ist die zunehmende ökonomische Ungleichheit innerhalb und zwischen den Mitgliedsstaaten. Viele haben das Gefühl nicht von Europa zu profitieren und sehen die EU deshalb als ein Elitenprojekt. Es ist schön, wenn Schüler*innen und Student*innen durch Erasmus die positiven Wirkungen Europas am eigenen Leibe erfahren. Dabei darf man aber nicht vergessen, dass dies eine eher privilegierte Schicht betrifft. Die Abgehängten haben kein Interesse politisch zu partizipieren. Viele sind von der EU enttäuscht und denken, dass sie mit ihrer Stimme ohnehin keine Veränderung bewirken können. Das ist aber meiner Meinung nach der falsche Schluss, einer der die eigene Verantwortung erst Recht an das Establishment abgibt. Um die Demokratisierung voran zu treiben, sage ich, geht wählen und wählt möglichst progressive Parteien. Aber das reicht nicht. Setzt die EU durch Initiativen, Demonstrationen, Petitionen, Briefe an Abgeordnete und Gespräche im Bekanntenkreis konstant unter Druck.
Los gehts
Es lohnt sich in dem Zusammenhang noch einmal den Blick umzukehren, weg von Defiziten darauf, was schon alles mit der EU erreicht wurde. Es ist ein einzigartiges Projekt, in dem Nationalstaaten sich nach zwei Weltkriegen zusammengeschlossen haben, mit der Absicht zu kooperieren und bereit waren eigene Kompetenzen für gemeinsame Ziele abzutreten. Dieses Bündnis hat mächtige Institutionen geschaffen, die gemeinsam auf internationaler Ebene mit Großmächten wie den USA und China einen wichtigen Machtfaktor darstellen. Was nur nicht geschehen darf, ist einfach stehen zu bleiben. Was mir Mut macht ist der Fakt, dass die europäische Integration immer in Zeiten der Krise besonders vorangeschritten ist.
Der Fortschritt ist langsam, es handelt sich um einen langen Weg. Es hilft aber der Gedanke, dass wir mit vielen in dem Ziel verbunden sind, das europäische Projekt weiterzuentwickeln. Das betrifft nicht nur Mitstreiter in anderen EU Staaten, sondern auch diejenigen, die sich in der Vergangenheit für Fortschritt eingesetzt haben und heute vielleicht schon nicht mehr am Leben sind. Das, was sie erreicht haben, ist unser Geschenk und das Fundament auf dem wir und die nach uns kommen aufbauen können. Wir können uns dafür einbringen, dass über den Hebel der EU die Welt noch mehr zu der wird, in der wir gerne leben wollen. Wir müssen weiter Druck machen, es handelt sich um ein Jahrhundertprojekt. Und aus diesem Grund ist es so wichtig, dass junge Perspektiven und ihr Engagement diesen Entwicklungsprozess bereichern. Enden möchte ich mit der Umkehrung eines bekannten Zitats von Helmut Schmidt: Wer keine Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.
Anna
Mai 1, 2019 at 1:13 pm
Danke, super Text!
Joe
Mai 19, 2019 at 3:38 pm
Ich mag deinen Artikel und fühle mich genauso.