Ramy ist Leiter der Dr. Morini-Stiftung, einer Stiftung in Bonn-Tannenbusch, die sich zum Ziel gesetzt hat, die Potenziale von Jugendlichen und Geflüchteten im Stadtteil zu stärken. Letztes Jahr durfte Ramy zum 70. Jahrestag der Bundesrepublik Deutschland mit Angela Merkel und Frank Walter Steinmeier bei einer Tasse Kaffee zum Thema Demokratie mitdiskutieren. Eigentlich wollten wir uns persönlich in der Stiftung zum Interview treffen. Das ist unter den aktuellen Bedingungen von Corona und Kontaktverbot leider nicht möglich, daher führten wir das Interview am Handy.
Ich: Ramy, wer bist du denn eigentlich und was treibst du so?
Ramy: Ich bin Ramy Azrak, 41 Jahr jung, habe Diplom-Sportwissenschaften an der Sporthochschule Köln studiert und bin eigentlich ein Tausendsassa. Früher wollte ich ins Sportmarketing, am liebsten in den Profifußballbereich. Das hatte dann aber nicht geklappt, da es nur wenige Jobs bei einer extrem hohen Nachfrage gibt. Stattdessen startete ich bei dem Jugendhilfeträger Rheinflanke als Standortleiter in Bonn. So bin ich hauptberuflich vor zehn Jahren in die Jugendarbeit eingestiegen.
Ich: Du hast Sport studiert und Sport ist auch immer noch Teil deiner Arbeit, oder?
Ramy: Genau, ich habe schon mit 14 Jahren Sport AGs geleitet und war dann auch E-Jugend-Fussballtrainer. In den letzten Jahren habe ich große „Sport im Park“ Trainingseinheiten geleitet, war beim Original Bootcamp Headcoach und bin jetzt immer noch bei Outdoor Gym Standortleiter in Bonn. Mittlerweile koordiniere ich aber nur noch, liege also bei schlechtem Wetter auf der Couch, während meine Trainer im Freien Trainings geben (lacht). Sport war immer ein Teil von mir und wird es immer sein.
Ich: Auf der Homepage der Dr. Moroni-Stiftung heißt es, dass es bei eurer Arbeit auch darum geht, die eigenen Potenziale zu erkennen.
Ramy: Genau, neben dem Sport, verfolgen wir dieses Prinzip auch in unseren Projekten im Rahmen der sozialen Arbeit, wo wir junge Menschen fördern. Als Jugendlicher haben wir immer den Hausmeister gefragt, ob wir in die Halle dürfen, um Körbe zu werfen. Wenn er einen guten Tag hatte, durften wir rein, wenn nicht, haben wir draußen in der Kälte rumgehangen. Deshalb haben wir mit der iSo (Innovative Sozialarbeit e.V.) in Kooperation mit der Dirk Nowitzki Stiftung mit den jungen Menschen hier das BasKIDball-Projekt gestartet, wo alle Kids in der offenen Halle ohne Leistungsdruck willkommen sind. Das ist eines von vielen Projekten, die eher niedrigschwellig sind. Anspruchsvollere Projekte sind unter anderem unsere kostenfreie Hausaufgabenbetreuung für Kinder, Beratung durch den Verbraucherschutz und Empowerings-Workshops für Mädchen. Unsere Projekte zielen darauf, dass die Jugendlichen ihre Potenziale zu nutzen lernen und an sich glauben. Nicht jeder hat die gleichen Startbedingungen und es ist sehr schade, wenn ein Kind aufgrund finanzieller oder auch Bildungsbenachteiligung der Eltern auf der Strecke bleibt.
Ich: Wie war das bei dir mit deinen Startmöglichkeiten. Wie war der Weg dahin, wo du jetzt bist?
Ramy: Mein Vater, der leider 2018 verstorben ist, kam 1957 aus Syrien nach Deutschland, um sich hier wegen Rheuma behandeln zu lassen. Er ist dann hiergeblieben und meine Mutter kam wenig später nach. Meine Eltern haben hier von der Pike auf alles für sich aufgebaut und waren sehr fleißig. Wir sind drei Brüder, aus uns allen sind Akademiker geworden, mit guten Jobs. Aber das war auch ein harter Weg. Den Grundstein haben unsere Eltern in der Erziehung gesetzt, mit klaren Regeln, dafür bin ich ihnen sehr dankbar. Trotzdem muss man die gestellten Weichen auch nutzen und hart arbeiten. Wenn ich Jugendliche coache, zeige ich ihnen immer das Eisbergmodell. Es ist sehr simpel und vermittelt eine wichtige Botschaft. Über der Wasseroberfläche sieht man die Spitze des Eisbergs, Ausdruck für den sichtbaren Erfolg. Darunter ist der große fette Eisberg, den man aber nicht sieht. Dieser steht für harte Arbeit, Schweiß, Rückschläge und Scheitern. Meine Mutter hat sich sehr dafür eingesetzt, dass wir alle aufs Gymnasium kommen. Oft ist es ja so, dass Kinder aus Migranten-Familien nicht einfach eine gymnasiale Empfehlung erhalten und das mussten wir uns auch erkämpfen. Wir sind alle in Tannenbusch aufgewachsen, hier kann es manchmal etwas schwieriger sein. Aber wir haben auch gezeigt, dass es auch an einem selber liegt und darauf ankommt, wie engagiert man ist. Natürlich habe ich auch Benachteiligungen erlebt, habe leider auch in der Schule diskriminierende Erfahrungen machen müssen. Aber ich muss ehrlich sagen, dass ich auch sehr vielen tollen Pädagogen in meinem Werdegang begegnet bin. Seit Februar bin ich noch zusätzlich Vertretungslehrer für Sport am Helmholtz-Gymnasium. Vielleicht auch weil ich selbst einen schwierigen Weg hatte, bin ich jetzt Lehrer. Ich glaube nicht an Zufälle. In der Schule möchte ich meine Schüler fördern und den „Sportmuffeln“ genauso viel Spaß an der Bewegung vermitteln.
Ich: Was steckt hinter dem Begriff empowern? Wie versuchst du das mit den Jugendlich zu machen, die zu euch kommen?
Ramy: “So viel wie nötig, so wenig wie möglich”. Das bedeutet, dass man Jugendliche fördert, selbstständig zu werden, um auf eigenen Beinen zu stehen, das ist ganz wichtig. Ich habe anfangs in der Jugendarbeit den Fehler gemacht, dass die Projekte zu konsumorientiert waren. Bei unseren niedrigschwelligen Sport-Events gab es viel Essen, große Pokale und einen hohen Spaßfaktor. Das hatte aber keinen pädagogischen Mehrwert. Du lockst zwar Jugendliche damit, sie kommen und spielen, lassen dann aber den Müll auf dem Boden liegen und beschweren sich noch, warum die Pokale beim letzten Mal größer waren (lacht) und gehen ohne mit aufzuräumen. Dabei gibt es dann keine Weiterentwicklung der Persönlichkeiten, das habe ich damals falsch gemacht und das wird auch häufig aus meiner Sicht in der Jugendarbeit insgesamt noch falsch gemacht. Ich habe daraus gelernt, dass ich Projekte so gestalte, dass Jugendliche mit der Welt in Austausch gehen und ein Produkt schaffen. Mittlerweile organisieren Jugendliche ehrenamtlich Sportevents, kümmern sich um die Spielorganisation und lernen was es bedeutet Verantwortung zu übernehmen. In den letzten Jahren habe ich Jugendliche oft zu Meetings mitgenommen, sie eigene Projektanträge schreiben lassen und sie auf politische Bildungsfahrten nach Berlin mitgenommen. Da sehen die Jugendlichen, dass es da draußen auch eine andere Welt gibt, die sie spannend finden und besser finden als nur zu chillen. Jahre später kommen sie noch teilweise zu mir und sagen „hey Ramy, das war eine super Zeit mit dir, wir haben sehr viel gelernt. Seit dieser Zeit engagieren wir uns sozial und gehen wählen, weil wir wissen, was Politik bedeutet und warum Demokratie so wichtig ist.“ Es freut mich auch immer, wenn ich nach Rat gefragt werde. Bis heute bin ich für viele wie ein großer Buddy, der über ihre Bewerbung schaut, ihnen Tipps beim Werdegang gibt und ein offenes Ohr hat. Trotzdem tragen sie für ihr eigenes Leben Verantwortung. Das ist der Aspekt des Empowerments. Ich schiebe ihnen nicht den Löffel in den Mund und füttere sie, sondern fördere fördere sie zu eigenständigem Lernen und Denken. Das habe ich auch in den letzten Jahren, insbesondere bei Menschen mit Fluchtgeschichten, gemacht. Gerade nach 2015 sind dann auch viele Syrerinnen und Syrer nach Deutschland gekommen. In den ersten zwei Jahren gab es sprachliche Barrieren, die es schwer gemacht haben zu verstehen, wie der Hase hier läuft. Da konnte ich sehr gut unterstützen, da ich die Kultur kenne und die Sprache spreche. Jetzt ist die Integration erfolgt und es geht mehr um Fragen der Partizipation: Wohnung finden und einen Job bekommen.
Ich: Aus deiner ganz persönlichen Perspektive vor Ort und deiner Arbeit, wie hat das mit der Integration geklappt?
Ramy: Also man sieht ja nun auch an den Zahlen, dass immer mehr Geflüchtete einen Job haben und dass auch immer mehr Erfolgsgeschichten geschrieben werden. Und dann gibt es da eine Partei, die dann auch viel hetzt und ausschließlich Negatives verbreitet. Ich habe einfach nur tolle Menschen kennengelernt, die super engagiert sind und helfen, wenn jemand umzieht oder Hilfe braucht. Der Mohammed hat mir bei der Elektrizität in meiner Wohnung geholfen, Ghaith bei der Konfiguration meines Laptops und Fares erstellt für meine Projekte professionelle Flyer, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Aber klar, da gibt es auch einige, wo es auch schwierig ist. In den allermeisten Fällen ist da die Sprache der begrenzende Faktor. Ich stell mir das immer so vor. Ich werde jetzt wegen eines Krieges aus meinem Leben gerissen und muss jetzt nach China flüchten und dort von der Pike auf alles neu lernen, auch die chinesische Sprache. Ich wäre total überfordert jetzt nochmal von vorne anzufangen und eine ganz schwierige neue Sprache zu lernen! Ich hätte große Schwierigkeiten Motivation aufzubringen. Deshalb finde ich das außerordentlich erstaunlich, wie gut die meisten schon Deutsch sprechen und das sind nicht die fünfjährigen Kinder, sondern auch die Erwachsenen. Deutsch ist eine wirklich schwierige Sprache im Vergleich zu Englisch. Insgesamt bin ich sehr zufrieden, wie gut die Integration funktioniert hat. Wir sind jetzt an einem neuen Punkt angekommen. Viele haben hier ihre neue Heimat gefunden. Ein gutes Beispiel ist auch der Salim, ein Syrer, der sich damals wegen einer diskriminierenden Erfahrung an mich gewandt hat. Er hatte sich ungefähr bei 35 bis 40 Autohäusern in der Region Bonn-Rhein-Sieg beworben, ist teilweise mit dem Fahrrad persönlich dort hingefahren. Salim hat dann von einem Autohaus eine Absage bekommen mit den Worten “vielen Dank für Ihre Bewerbung, leider haben wir uns für einen anderen Bewerber entschieden” und dann “wir möchten Ihnen den Ratschlag geben, bitte in ihr Land zurückzugehen und sich am Wiederaufbau zu beteiligen, da der Krieg beendet ist.“ Das war natürlich total krass! Ich habe das dann in die Medien gebracht. Auch der Spiegel hat dann eine große Reportage in der Hauptausgabe mit Salim gemacht. Das Autohaus hat dann einen riesigen Shitstorm bekommen, die Aussage kam persönlich direkt vom Geschäftsführer, das war sehr diskriminierend. Ich finde es wichtig zu sehen, dass wir im Prinzip alle ein Teil einer Gesellschaft sind und keine Angst haben sollten daran partizipieren zu wollen. Diese Botschaft ist angekommen. Nicht nur sein Beispiel zeigt, dass die große Mehrzahl unbedingt arbeiten will. Diese unmenschliche Partei verzerrt das alles. Ein anderes Beispiel handelt von einem Syrer, der Angst hatte bei den Behörden bezüglich des Status quo seines Antrags auf Nachzug seiner Frau und Tochter nachzufragen. Der stand immer vor dem Büro des Mitarbeiters im Stadthaus und hat gezittert, da er von seinem Sachbearbeiter sehr schlecht behandelt wurde und traute sich nicht mehr ins Büro. Mich hat damals jemand auf diesen Fall aufmerksam gemacht. Dann bin ich spontan mit ihm hingegangen und habe mit dem Sachbearbeiter offen geredet und dargestellt, dass die Menschen auch Sorgen und Ängste haben und dass man sich doch auch mal in deren Situation hineinversetzten sollte. Ein paar Tage später kam dann ein Anruf von ihm, dass jetzt seine Frau und Tochter auf dem Weg sind und innerhalb von drei Wochen konnte er sie dann wieder in die Arme schließen. Der ist mir für sein Leben lang dankbar, aber eigentlich habe ich da nichts Großes gemacht, einfach nur versucht zu helfen und ihm seine Ängste zu nehmen, das macht mir an meiner Arbeit Spaß.
Ich: Das hat ja auch bisschen was damit zu tun, sich selbst dessen bewusst zu sein, welche Möglichkeiten man hat, die andere vielleicht nicht haben und diese dann zielgerichtet für anderen Menschen einzusetzen.
Ramy: Absolut. Es geht ja immer um Machtstrukturen. Ich bin auch Antidiskriminierungstrainer und dabei geht es immer darum, dass es eine Schieflage gibt und manche Menschen in einer mächtigen Position sind, die sie dann oft auch instrumentalisieren und negative Auswirkungen hat. Aber man kann auch Macht positiv einsetzen, um anderen Menschen Chancen zu ermöglichen. Man kann auch daran mitwirken, dass die Schieflage in der Gesellschaft nicht zu groß wird. Ich nutze meine Möglichkeiten, um den „Schwächeren“ zu helfen.
Ich: Ich möchte noch einmal kurz zu deiner aktuellen Arbeit zurückkommen. Du hattest gesagt, dass du für die Jugendlichen in Tannenbusch niedrigschwellige Angebote machst. Wie geht das? Ich stelle mir das tatsächlich herausfordernd vor, tolle Projekt auf die Beine zu stellen, aber Jugendliche finden das dann im ersten Moment vielleicht nicht so cool. Wie macht ihr das?
Ramy: Wenn man ein Projekt gestaltet ist es wichtig, dass man es nicht für Jugendliche, sondern mit Jugendlichen gemeinsam gestaltet, sich entsprechend auch nach deren Bedarfen und Interessen richtet. Wenn ich beispielsweise ein Fußballturnier organisiere, lasse ich es mittlerweile von den Jugendlichen planen und beteilige sie im gesamten Prozessmanagement. Wir spielen auf der einen Seite „nur“ niederschwellig Fußball, der auf der anderen Seite mit einem pädagogischen Prozess verknüpft ist, inklusive Lernerfolgen. Wenn 15-jährige das selber machen, hat das eine gewisse Wirkung für Eigenständigkeit und Verantwortung. Sie fühlen sich dann auch wertgeschätzt. Sie wissen dann auch, wie viel Arbeit so ein einfaches Fußballturnier sein kann. Es gibt aber auch Angebote, wo wir nur spielen, wie das bereits erwähnte „BasKIDball“ Projekt. Unsere zwei Sportpädagogen Alex und Hichäm haben auch immer ein offenes Ohr für unsere Kids und kümmern sich: “Wie läuft es in der Schule? Was geht zuhause ab? Brauchst du bei etwas Unterstützung?“. Im Prinzip sind sie letztlich auch Seelsorger für die Kids.
Ich: Ramy, du bist in Tannenbusch aufgewachsen und später wieder zurückgezogen, um dort jetzt deine alltägliche Arbeit zu verrichten. Wie blickst du denn so auf dein Viertel? Wie hat es sich verändert in den letzten Jahren? Wie gehen die Menschen da miteinander um? Wie guckst du persönlich da rauf?
Ramy: Ich habe ja 2015 den Ehrenpreis für mein Engagement im Stadtteil gewonnen, die „Goldene Tanne“. Das war für mich eine große Ehre! Das hat mich auch nochmal zusätzlich motiviert mitzugestalten. Baulich gesehen verändert sich der Stadtteil aus meiner Sicht sehr positiv. Wir haben ein neues Studentenwohnheim bekommen, bald sollen auch die alten Schulen abgerissen und neu gebaut werden. Die Grundschule wurde vor 8 Jahren neu gebaut, mit Mensa und Sportplätzen. Ich habe mich persönlich für den Umbau eines Sportplatzes eingesetzt. Der wird jetzt für viel Geld umgebaut. Dort entsteht eine Basketball- und Fitnessanlage. Ich musste früher nämlich immer nach Bad Godesberg gefahren, um dort Basketball zu spielen. Das hat mich immer geärgert.
Ich: Das ist ein weiter Weg!
Ramy: Ganz genau und Jugendliche haben jetzt deutlich bessere Sport- und Freizeitmöglichkeiten in Tannenbusch. Halb Tannenbusch ist zurzeit noch eine Baustelle, das bewerte ich sehr positiv. Sozial sieht man auch Veränderungen, wir haben das tolle Haus Vielinbusch und viele andere wichtige Institutionen. Die Jugendlichen brauchen hier aber einfach noch mehr Perspektiven. Wenn baulich alles einmal steht und die Polizei die wenigen schwarzen Schafe mit Razzien bekämpft, dann kann hier viel mehr entstehen, als die meisten Menschen glauben. Wenn die Jugendlichen noch mehr gefördert werden und hier nehme ich auch die Stadt Bonn in die Verantwortung, dann wird das nicht passiert, was wir in dieser Generation haben; dass zu viele Jugendliche auf die schiefe Bahn kommen. Ich lebe gerne in Tannenbusch und die Entwicklungen gehen in die richtige Richtung. Das wird medial leider nicht immer so wahrgenommen. Es ist hier wirklich viel besser, als die Medien es darstellen. Es ist so, einmal im Kopf Ghetto, immer Ghetto. Aber die Veränderungen, die entstehen, brauchen in den Köpfen häufig länger als die Baustellen.
Ich: Fühlt man sich denn in Tannenbusch abgeschnitten vom Rest der Stadt, oder fühlt man sich als gleichberechtigter Stadtteil unter den anderen?
Ramy: Joah, das ist so eine Findungssache. Ich wohne nicht in einem der heruntergekommenen Hochhaussiedlungen. Da muss man die Leute selber fragen. Ich selber lebe gerne in Tannenbusch, weil die Infrastruktur hier optimal ist. Wir haben hier alle Schulen, wir haben hier ein super Einkaufszentrum, Sportplätze, einen Grünzug, das ist alles Top und wir haben eine super Verbindung in die Stadt, in acht Minuten ist man mit der U-Bahn in der Bonner Innenstadt. Ich kenne sehr viele, die super gerne hier leben und niemals weg wollen. Es gibt aber auch Leute, die sich abgehängt fühlen, von Hartz IV leben und offensichtlich weniger Chancen haben. Ich wertschätze die Vielfalt der Bewohner. Wir haben hier so viele nette Menschen aus so vielen Nationen. Aufgrund von DHL, UN, GIZ und anderen großen Organisationen hat man in Bonn natürlich insgesamt sehr viele internationale Mitbürger. Die Menschen, die bei diesen Organisationen arbeiten, haben in der Regel einen hohen akademischen Bildungsgrad. Die Problematik in unserem Stadtteil ist, dass zu viele Menschen ein unterdurchschnittliches Einkommen haben und die Arbeitslosenquote überproportional hoch ist. Das ist aber nicht für mich persönlich problematisch, bringt aber soziale Probleme mit sich.
Ich: Kommen wir noch einmal zum Thema Corona, Isolation und Versammlungsverbot. Was macht das jetzt mit deiner Arbeit? Was macht das insbesondere auch mit den Jugendlichen und den Geflüchteten deiner Zielgruppe?
Ramy: Das ist schon ein großes Problem. In der Schule geben wir jetzt Online-Unterricht. Wir erstellen Wochenpläne, laden die dann hoch und die Jugendlichen sind dann beschäftigt. Wir bieten vor allem auch aktive Sportprogramme für zuhause an. In der Sozialarbeit ist das schon etwas schwieriger. Da waren wir auch nie so digital vernetzt, wie an der Schule. Basketball spielen geht jetzt nicht mehr, die Halle ist zu. Oder die Hausaufgabenhilfe können wir auch nicht mehr weiterführen. Im Bereich der Digitalisierung haben wir in der sozialen Arbeit großen Nachholbedarf, das wird sich in der Zukunft hoffentlich ändern. Es gibt noch bestimmte Beratungsangebote, wie z.B. Migrationsberatung, Elternarbeit und psychologische Beratung bei den großen Trägern, die dann per E-mail oder Telefon durchgeführt werden. Aber bei uns gibt es ja eher praktische Projekte, gemeinsame Kunst-, Sport- und Kochprojekte. Das liegt halt alles gerade auf Eis. Die Arbeit ist gefühlt von 100 auf 0 Prozent runter gefahren. Jetzt arbeite ich halt etwas konzeptionell und betreibe noch mehr Netzwerkarbeit.
Ich: Was denkst du, was macht die Corona-Krise mit uns als deutscher Gesellschaft, oder halt im Kleinen, in Bonn. Was meinst du, wie verändert das uns vielleicht auch langfristig?
Ramy: Ja, das ist eine sehr spannende Frage. Ich merke, dass wir jetzt in dieser Zeit auch menschlich mehr zusammenrücken. Zusammenhalt ist den Menschen wichtiger ist als Hetze. Uni-Kliniken arbeiten jetzt deutschlandweit zusammen, wo vorher Konkurrenz war. Man rückt auch näher zusammen auf globaler Ebene, alle Länder versuchen etwas gegen dieses Virus zu machen. Wir sitzen alle im gleichen Boot. Wir haben natürlich eine zwischenmenschliche Distanzierung im physischen Sinne, aber wir haben ein soziales Näherrücken. Wir merken als Gesellschaft, dass wir nicht immer höher, schneller und weiter hinaus müssen und sehen auch, was für elementare Probleme es in anderen Ländern schon oft gab, aber das war immer so weit weg. Zum Beispiel Ebola. Ich spüre jetzt die Solidarität in der Gesellschaft, dass Menschen für ihre älteren Nachbarn einkaufen und sich gegenseitig mehr unterstützen. Ich versuche aus Corona die positiven Dinge zu ziehen und nicht in Depressionen zu verfallen. Es ist die Chance zur Ruhe kommen, auch in der Familie noch mehr Zeit verbringen und zu erkennen, dass es auch etwas anderes gibt als Konsum und Wirtschaftswachstum. Ich bin der Politik dankbar, dass sie den Menschen in den Fokus rückt und wir in erster Linie in der Pandemie Menschenleben retten wollen, anstatt den Gewinn zu maximieren.
Ich: Das heißt, dass wird auf jeden Fall etwas mit uns machen. Wir werden nicht einfach den Schalter wieder anschalten und genauso weitermachen wir vorher Werden wir hieraus verändert hervorgehen?
Ramy: Genau, das wäre meine Hoffnung, dass man z.B. Menschen in der Pflege besser bezahlt, noch mehr Solidarität zeigt gegenüber Menschen, die wenig haben. Das ist auch mein Wunsch, dass wir uns etwas entschleunigen. Mein persönlicher Wunsch ist, dass wir in Zukunft alle noch solidarischer miteinander umgehen.
Ich: Ramy, du bist eingestiegen mit deiner Vorstellung, dass du ein Tausendsassa bist und unheimlich viel machst. Du bist Stiftungsleiter, Sportlehrer, nebenbei Sportcoach und ich habe bestimmt einiges vergessen, wie schaffst du das alles, wie kriegst du das alles unter einen Hut und was gibt dir auch die Energie immer weiter zu machen?
Ja, vor Corona habe ich teilweise auch vier bis sechs Wochen ohne einen Tag Pause gearbeitet, d.h. ich habe neben der Stiftung und als Lehrer und Fitnesskoordinator an den Wochenenden für den Landessportbund NRW in verschiedenen Städten Ausbildung geleitet, auch mit geflüchteten Menschen. Für die Polizei arbeite ich in der Initiative „Kurve kriegen“. Da unterstütze ich in der Einzelfallbetreuung zwei Jugendlichen, die von der Bahn abgekommen sind. Warum mach ich das alles? Viele meiner Freunde sagen, ich sei verrückt, dass ich viel zu viel arbeiten würde und mich nicht entspannen könne. Aber ich merke schnell, wenn ich zu viel frei habe, so wie jetzt mit Corona, da fällt mir die Decke auf den Kopf. Eine Woche, das ist gut, um wieder runter zu kommen und Kraft zu tanken. Aber ich habe einfach immer diesen inneren Antrieb, Dinge zu bewegen und das ist für mich dann positiver Stress. Das ist auch mein Credo an die Jugendlichen und Geflüchteten – nicht Chillen ist der Erfolg, sondern wenn du etwas bewegst, wenn du etwas verändern kannst. Das ist dann Erfolg und das motiviert dich einfach und gibt dir ein gutes Gefühl, wenn du abends ins Bett gehst.
Ich: Du hast dann quasi einen guten Kreislauf für dich entwickelt, dass deine Arbeit und deine Erfolge auch deine Batterien wieder aufladen. Dein Ehrgeiz hat dich letztes Jahr zur Kaffeetafel mit Frank Walter Steinmeier und Angela Merkel ins Schloss Belvue gebracht. Wie kam es dazu?
Ramy: Ja, das war auch für mich etwas sehr besonderes mit ihnen und weiteren Persönlichkeiten bei Kaffee über Demokratie, Chancengleichheit, Integration und das Grundgesetzt zu diskutieren. Es war eigentlich ein Gewinnspiel über den General-Anzeiger-Bonn, wo aufgerufen wurde einen Brief über das Grundgesetz zu schreiben. Bei mehr als 100 Einsendungen habe ich überzeugt und durfte mit vier weiteren Gewinnern nach Berlin.
Ich: Was hast Du Frau Merkel gesagt?
Ramy: Ich habe ihr vor allem für ihren Mut, die Menschlichkeit und die Entscheidung gedankt, vielen Syrerinnen und Syrern 2015 ein neues und lebenswertes Leben zu schenken. Es ist einfach grausam, dass bis heute hunderttausende Menschen in diesem schrecklichen Krieg ihr Leben verloren haben. Insbesondere für ihren Satz „Wir schaffen das“ habe ich ihr gedankt, er hat viel Solidarität in der Gesellschaft geweckt und den teilweise traumatisierten Menschen neue Hoffnungen auf ein würdevolles Leben gegeben..
Ich: Ramy, herzlichen Dank, ich fand es sehr inspirierend.
Anna
April 17, 2020 at 9:56 am
Danke, super inspirierend! Werde ich bei Facebook teilen.
Ramy Azrak
April 17, 2020 at 10:00 pm
Hallo Anna, das freut mich sehr 🙂
Viele Grüße, Ramy
Elisa
April 17, 2020 at 7:44 pm
Tolles Interview! Und Danke an Ramy für seine Arbeit! Geschichten wie seine geben mir Hoffnung, dass wir als Gesellschaft auch diese Krise überstehen…
Julian
April 18, 2020 at 5:49 am
Super Interview. Ramy ist ein Vorbild für viele Menschen, alt wie jung. Wir brauchen mehr Typen wie Ramy!
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Christian
April 21, 2020 at 12:11 pm
Toller Artikel. Wir stellen grad ein solches Projekt für jugendlich auf die Beine, zum ersten Mal. Werde den Artikel gleich als Inspiration an die Partner*innen senden