Seit einiger Zeit kursiert in Deutschland ein unbestimmtes Gefühl, dass etwas mit dem gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserem Land nicht stimmt. Dieses Gefühl findet Ausdruck in öffentlichen Debatten und privaten Diskussionen, hinweg über das gesamte politische Spektrum von links nach rechts. Die nicht enden wollende Thematisierung von Flüchtlingsfragen, die neue Sehnsucht nach Heimat und alter Übersichtlichkeit sind Symptome dieses vagen Gefühls, welches zunehmend konkreter wird.
In diesem Zusammenhang ist mir ein Buch von 2016 in die Hände gefallen, welches einige aufschlussreiche Ideen bereithält, was es mit diesem Gefühl auf sich hat und woher es stammen könnte. Sebastian Junger geht in dem Buch „Tribe“ der Frage nach, wie das Gemeinschaftsgefühl in traditionellen Gesellschaften ausgeprägt war. Unter anderem nennt er verschiedene Berichte aus den USA des 18. Jahrhunderts, bei denen weiße Siedler von amerikanischen Ureinwohnern verschleppt wurden. Es gab mehrere gut dokumentierte Vorfälle, wo die Verschleppten nach Verhandlungen wieder in ihre Ursprungsgemeinschaft zurückkehren sollten, sich dagegen aber in vielen Fällen gewehrt haben. Junger möchte bewusst keine naive Verklärung der amerikanischen Ureinwohner vornehmen und verweist etwa auf schreckliche Folterpraktiken und Kriege zwischen den Stämmen. Allerdings stellt er heraus, dass die Gemeinschaften sehr egalitär geprägt waren: keiner besaß viel und das Meiste wurde geteilt, Egoisten wurden sanktioniert. Zudem hatten die Stammesmitglieder relativ viel Freizeit zur Verfügung, die sie zumeist gemeinsam verbracht haben. Durch das starke Gemeinschaftsgefühl waren die Mitglieder gewillt sich in den Dienst der Gruppe zu stellen und Verantwortung zu übernehmen, woraus sie wiederum Anerkennung der Gruppe schöpften. (Ähnliche Muster konnten übrigens auch bei sogenannten isolierten Völkern beobachtet werden, die bisher nur wenig Kontakt zu modernen Gesellschaften hatten.) Trotz vieler Entbehrungen wirkten diese Faktoren anziehend auf viele Weiße im Amerika des 18. Jahrhunderts.
Diese Schilderungen stehen im scharfen Kontrast zu unserer modernen Gesellschaft, in der nicht nur die Ungleichheit zwischen den Menschen (das Spektrum reicht von Wohnungslosen bis Multimilliardären) ein krasses Niveau angenommen hat, sondern auch Sanktionen gegen egoistisches Verhalten in den Hintergrund getreten sind. Wir genießen zwar auf dem Papier viele individuelle Freiheiten, verbringen aber einen Großteil unserer Lebenszeit mit Arbeit und leben zwischen Menschen, die wir in der Regel nicht persönlich kennen. Der Wille, sich für die Gemeinschaft einzubringen und Verantwortung zu übernehmen nimmt unter diesen Voraussetzungen ab. In diesem Zusammenhang verweist Junger auf hohe Selbstmordraten in modernen Gesellschaften und die Zunahme von psychischen Krankheiten wie Depressionen, Missbrauch von Tabletten und grassierender Einsamkeit. Interessanterweise findet er Hinweise, dass Selbstmordraten und psychische Probleme in Zeiten von Extremsituationen wie Krieg und Naturkatastrophen zurückgehen. Der Druck von Außen lässt Unterschiede wie Klassenzugehörigkeit, Ethnie und Religion in den Hintergrund treten und schafft eine Überlebensgemeinschaft. Menschen scheinen sich psychisch besser zu fühlen, wenn sie sich in der Gemeinschaft engagieren. Junger bringt es auf den Punkt:
„Entbehrungen machen dem Menschen nichts aus, er ist sogar auf sie angewiesen; worunter er jedoch leidet ist das Gefühl nicht gebraucht zu werden. Die moderne Gesellschaft hat die Kunst perfektioniert, den Menschen das Gefühl der Nutzlosigkeit zu geben.“
Junger berichtet weiterhin von Überlebenden aus dem Jugoslawienkrieges, die sich nach der Zusammengehörigkeit der Kriegszeiten zurücksehnen; oder amerikanischen Veteranen, die vermehrt mit posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) von der Front in die Heimat zurückkehren. Junger zeigt auf, dass das Auftreten von PTBS weniger mit dem Fakt zu tun hat, ob die Soldaten tatsächlich in gefährliche Situationen geraten sind. Vielmehr führt er es auf den Umstand zurück, dass die Soldaten im Einsatz die Möglichkeit haben, ein Gemeinschaftsgefühl ähnlich wie bei traditionellen Gesellschaften zu erfahren, sehr egalitär mit großem Zusammenhalt unter dem Eindruck der existentiellen Bedrohung. Der Verlust dieses Gefühls bei Wiedereintritt in die moderne Gesellschaft ist bei vielen mit erheblichen Problemen verbunden.
Dies legt die Überlegung nahe, dass beim Thema sozialer Zusammenhalt unser evolutionäres Erbe vom Leben im Kontext von Stammesgesellschaften angesprochen wird. Seit der Mensch existiert, hat er die meiste Zeit in solchen Zusammenhängen gelebt; die moderne Gesellschaft hingegen ist eine vergleichsweise junge Entwicklung. Daher entwickelt das Thema auch so eine große Sehnsucht und spricht unsere tiefen Emotionen an. Dafür brauchen wir weder Krieg noch Katastrophe. Wir müssen uns aber fragen, wie wir es unter den herrschenden Verhältnissen anstellen können, um als Gesellschaft zusammenzufinden.
Rechte Schwarzseher und Agitatoren von Pegida, über Identitäre bis zur AFD haben darauf keine Antwort gefunden, machen sich aber die Sehnsucht nach der Gemeinschaft zunutze. Sie blicken mit Sorge auf die Zukunft und versuchen ein Gemeinschaftsgefühl zu schüren, indem Sie äußere Bedrohungen ausmachen. Manche von ihnen sind von dieser Bedrohung fest überzeugt, andere instrumentalisieren sie für politische Zwecke. Der Gemeinschaftssinn bietet offenbar eine hohe Attraktivität. Schön wäre es, ihn aber mit einer positiven Vision zu verbinden, ohne das Trennende in den Vordergrund zu rücken.
In unserer modernen Gesellschaft ist uns anscheinend das Gemeinschaftsgefühl verloren gegangen. Die Frage ist, wie wir ihn wiederfinden können, ohne eine Rückkehr in steinzeitliche Verhältnisse zu propagieren. Wie können wir unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft den Zusammenhalt zwischen uns stärken, ohne uns gegen andere Gruppen künstlich abgrenzen zu müssen. Wie können wir Bedingungen schaffen, in denen jeder wieder Lust hat, sich in die gesellschaftlichen Belange einzubringen und das Gefühl bekommt gebraucht zu werden? Wie können wir wieder ein positives Bild der Zukunft zeichnen und bei jedem Einzelnen den Glauben schaffen, dass er diese mit gestalten kann?
All diese Fragen sind nicht leicht zu beantworten, dennoch soll dieser Blog davon in Zukunft handeln…
Saman
Dezember 17, 2018 at 11:47 pm
Sehr gut geschrieben und macht Lust das Buch zu lesen.
Auf ein nachhaltigen Gesellschaftlichen Zusammenhalt und Erfolg zu diesen Blog 🙂