We Wish You a Merry Christmas Truce

Kürzlich las ich einen Roman über den ersten Weltkrieg. Dabei stieß ich auf eine faszinierende Episode aus dem Winter 1914, die ich schon wieder ganz vergessen hatte.

An der Westfront in Belgien bei Ypern, wo sich die Konfrontation der beiden Seiten mittlerweile zu einem Stellungskrieg entwickelt hatte, kam es an Weihnachten zu einem überraschenden Ereignis. Beide Seiten hatten erwartet den Krieg schnell beenden zu können, spätestens bis Weihnachten. Nun war klar, dass diese Einschätzungen zu optimistisch waren.

Nachdem deutsche Soldaten ihre Schützengraben festlich dekoriert und Weihnachtslieder gesungen hatten, begannen die Briten ebenfalls zu singen. Im Anschluss riefen sich beide Seiten Weihnachtsgrüsse zu. Dann muss es zu einer wahrlich mutigen Handlung gekommen sein. Erste Soldaten erhoben sich aus ihren Stellungen und betraten das sogenannte Niemandsland zwischen den Gräben, mit dem Risiko ein leichtes Ziel abzugeben und erschossen zu werden. Doch für diesen Moment flogen keine Kugeln und der Krieg machte eine Pause. Immer mehr Soldaten sammelten sich auf dem Schlachtfeld, gaben sich die Hand, tauschten Geschenke in Form von Tabak, Alkohol und Essen. Man sprach miteinander, ob übersetzt oder mit Händen und Füßen. Es wurde auch die Gelegenheit genutzt, die Toten zu bergen und zu begraben. Zudem soll es zu einer Serie von spontanen Fußballspielen gekommen sein. Anstatt mit Gewehren aufeinander zu schießen, spielten die Soldaten an diesem Tag miteinander Ball. Auch am darauf folgenden Tag, am 1. Weihnachtsfeiertag kam es zu ähnlichen Ereignissen.

Der Reservist Josef Wenzel beschrieb die Ereignisse in einem Brief  an seine Eltern:

„Es klingt kaum glaubhaft, was ich euch jetzt berichte, ist aber pure Wahrheit. Kaum fing es an Tag zu werden, erschienen schon die Engländer und winkten uns zu, was unsere Leute erwiderten. Allmählich gingen sie ganz heraus aus den Gräben, unsere Leute zündeten einen mitgebrachten Christbaum an, stellten ihn auf den Wall und läuteten mit Glocken. Alles bewegte sich frei aus den Gräben, und es wäre nicht einem in den Sinn gekommen zu schießen. Was ich vor ein paar Stunden noch für Wahnsinn hielt, konnte ich jetzt mit eigenen Augen sehen… war dies etwas Ergreifendes: Zwischen den Schützengräben stehen die verhasstesten und erbittertsten Gegner um den Christbaum und singen Weihnachtslieder. Diesen Anblick werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Man sieht bald, dass der Mensch weiterlebt, auch wenn er nichts mehr kennt in dieser Zeit als Töten und Morden… Weihnachten 1914 wird mir unvergesslich sein.“

Unknown author, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0, via Wikimedia Commons

Im weiteren Verlauf des Krieges kam es aber kaum zu vergleichbaren Verbrüderungen zwischen den gegnerischen Soldaten. Die Berichte über diese Ereignisse stießen bei den Heeresleitungen beider Seiten auf Unverständnis und wurden als Verrat deklariert. Dieses Ereignis vom Ende des Jahres 1914 ging in die Geschichtsbücher als sogenannter Christmas Truce (Waffenruhe) ein. Es hatte keinerlei Einfluss auf den weiteren Verlauf des Krieges. Dennoch rührt uns diese spontane menschliche Geste, die sich gefühlt am unmöglichsten Ort zutrug: in der Mitte eines tödlichen Schlachtfeldes. Selbst im Krieg kann zumindest temporär das Gemeinsame zwischen den Menschen in den Vordergrund treten.

Der Christmas Truce ist in Großbritannien bekannter als in Deutschland. Dort werden die spontanen Fußballmatche mystifiziert und wurden medial in Musik und Werbung verarbeitet.

Das erste Mal erfuhr ich vom Christmas Truce 2014. Zu der Zeit arbeitete ich in Sri Lanka in einem Friedensförderungsprojekt. Der Bürgerkrieg zwischen Tamil Tiger und Sri Lankischer Armee ging 2009 nach 26 Jahren blutig zu Ende. Zwar schwiegen die Waffen, dennoch bestanden nach dem Ende des Krieges immer noch zahlreiche gesellschaftliche Konfliktlinien fort, die unser Projekt mit gemeinsamen Initiativen zu überbrücken suchte. In diesem Jahr veranstalteten die deutsche und britische Botschaft in Colombo ein Fußballturnier in Erinnerung an die Ereignisse 100 Jahre zuvor. Neben britischen und deutschen Expats spielten wir mit Jugendlichen aus den ehemaligen Kriegsgebieten. In der sengenden Hitze Sri Lankas Weihnachten 2014 kamen wir alle zusammen, um uns zumindest für diese kurze Zeit an einer Geste des Friedens und der Zwischenmenschlichkeit zu versuchen.

Jetzt, Weihnachten 2018, sind vier weitere Jahre ins Land gegangen. Schaut man sich in der Welt um, gibt es Kriege wie eh und je. Humanitäre Katastrophen wie in Syrien, dem Jemen oder dem Südsudan ereignen sich in Echtzeit vor unseren Augen. Aber die Komplexität der Konflikte, die Ausweglosigkeit und lange Dauer ermüden uns. Die Vergegenwärtigung des Leides erzeugt bei uns ein Gefühl der Hilflosigkeit. Was können wir schon tun?

Wir haben Glück, dass wir nicht in den Kriegsgebieten leben müssen. Wir sind in Deutschland sehr privilegiert, dass wir an einem Ort und in einer Zeit ohne Krieg leben dürfen. Wir leben seit 73 Jahren in diesem Land in Frieden, auch wenn der gesellschaftliche Zusammenhalt heute bedrohter ist und Utopien nach einem neuen Miteinander fern erscheinen. Frieden, technischer Fortschritt und volkswirtschaftlicher Reichtum bilden aber eigentlich die besten Voraussetzungen, um uns ans Werk zu machen, gesellschaftliche Utopien Wirklichkeit werden zu lassen.

Der Christmas Truce hat uns gezeigt, dass unter den widrigsten Bedingungen das Undenkbare möglich ist. Die verfeindeten Soldaten haben den Rahmenbedingungen des Krieges zumindest für einen Moment getrotzt und sind aufeinander unter der Bedrohung des eigenen Lebens zugegangen. Was hindert uns eigentlich in Zeiten des Friedens daran, dem anderen die Hand zu reichen und aus ich und du ein wir werden zu lassen?

Ich weiß es nicht. Ich wünsche mir aber für das neue Jahr 2019, dass ich davon mehr sehen werde. Und ich glaube, dass dies auf fruchtbaren Boden fallen kann. Denn die Zeit dafür könnte reif sein.

Quellenangabe:

https://www.britannica.com/event/The-Christmas-Truce

http://www.bbc.co.uk/guides/zxsfyrd

http://time.com/3643889/christmas-truce-1914/

https://www.washingtonpost.com/news/retropolis/wp/2017/12/24/the-christmas-truce-miracle-soldiers-put-down-their-guns-to-sing-carols-and-drink-wine/?noredirect=on&utm_term=.88a954b1edb6

https://www.deutschlandfunk.de/vor-100-jahren-weihnachtsfrieden-an-der-westfront.871.de.html?dram:article_id=307089

https://diepresse.com/home/zeitgeschichte/4608645/Heute-vor-im-Dezember_Zwischenbilanz-im-Weltkrieg

Comments (1):

  1. Anna

    Januar 28, 2019 at 3:19 pm

    Gut und wahr! Inspirierend! Danke!

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